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evKITA-BlickPunkte: „ForuM-Studie – und jetzt?“

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Die ForuM-Studie zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland hat alle Akteure im Kitabereich aufgeschreckt. Vielleicht wähnten wir uns sicher, weil wir doch gute Schutzkonzepte haben und für das Thema sexualisierte Gewalt sensibilisiert sind? Was braucht es nach den neuen Erkenntnissen jetzt, damit in unserem Arbeitsbereich Sicherungssysteme greifen, die Gewalt weitgehend verhindern, klare Interventionsstrategien festlegen und systematische Aufarbeitung ermöglichen? Wie gehen wir als lernende Organisation mit den Ergebnissen um?

Zu diesen Fragen kamen Trägervertreter:innen bei den evKITA-BlickPunkten (dem Online-Talk für Träger) im Juni 2024 ins Gespräch. Als Expertin eingeladen war Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai, die an der ForuM-Studie mitgearbeitet hat. Die Sozial-, Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin hat als Erzieherin auch umfassende praktische Erfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit gesammelt. Themen wie Machtmissbrauch und Gewalt in Institutionen, Aufarbeitung sowie Kinderrechte und Schutzkonzepte gehören zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten.

Friederike Lorenz-Sinai stellte die wichtigsten Ergebnisse der Studie vor sowie die daraus abzuleitenden Handlungsempfehlungen. 


Erkenntnisse aus dem Teilbereich B der Studie, die Kita-Verantwortliche unbedingt kennen sollten

Die ForuM-Studie hat unter anderem die Bearbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in evangelischen Kitas untersucht. Die Analyse zeigt, dass eine juristische Bearbeitung allein nicht ausreicht, um solche Fälle angemessen zu behandeln. Stattdessen bedarf es einer umfassenden institutionellen Aufarbeitung auf allen Ebenen, die alle Betroffenen einbezieht. Eine proaktive Herangehensweise ist hierbei ebenso entscheidend wie der Schutz der betroffenen Personen – sowohl derjenigen, die Gewalt thematisiert haben (Eltern und Kinder), als auch derjenigen, die beschuldigt werden (andere Kinder und Fachkräfte).

Ein zentrales Problem in den untersuchten Fällen war die Haltung der Verantwortlichen, dass „eigentlich nichts passiert“ sei. Eine solche Einstellung erschwert die Aufarbeitung erheblich und führt zu tiefen Verletzungen bei den Betroffenen. 

Selbst wenn juristische Verfahren eingestellt werden, bedeutet dies nicht, dass die Verantwortlichen die Angelegenheit als abgeschlossen erklären sollten. Auch in solchen Fällen ist institutionelle Aufarbeitung notwendig, um die sozialen Dynamiken zu bewältigen und um Spaltungen innerhalb der Elternschaft zu vermeiden sowie Druck auf die Träger und die dahinterstehenden Gemeinden und Landeskirchen zu abzuwenden.

In den untersuchten Fällen wurde deutlich, dass der Umgang mit den Betroffenen und den beschuldigten Fachkräften stark kontrastierte. Während beschuldigte Fachkräfte oft ein hohes Maß an Fürsorge und Unterstützung erhielten, wurden anzeigende Familien diffamiert und ihre Motive in Frage gestellt. Für eine Aufarbeitung ist es aber nötig, Betroffenenorientierung und Personenschutz einerseits und Fürsorge für Mitarbeitende andererseits als getrennte, aber gleichwertig wichtige Aspekte zu betrachten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Reflexion über das, was uns überhaupt vorstellbar erscheint und die Bereitschaft, Unsicherheiten auszuhalten. Fachkräfte und Leitungspersonen sollten sich bewusst mit ihren eigenen Impulsen und Vorurteilen auseinandersetzen und wissenschaftliche Erkenntnisse über Täterstrategien und Dynamiken im Kontext sexualisierter Gewalt berücksichtigen. Dies erhöht die Bereitschaft, auch unangenehme Wahrheiten zu denken, zu akzeptieren und professionell damit umzugehen.

Der Schlüssel einer gelungenen institutionellen Aufarbeitung liegt also in einer mehrdimensionalen Bearbeitung. Diese gelingt am ehesten, wenn schnellstmöglich externe Hilfe und somit systemfremde Unterstützung hinzugezogen wird. Auch eine Differenzierung der verschiedenen Perspektiven dient einer professionellen Aufarbeitung. Hierbei ist es wichtig, die Kinder und die Elternperspektive klar zu trennen, wobei die Glaubwürdigkeit nicht an das Alter der Kinder gekoppelt werden sollte. 
Durch das Hinzuziehen externer Beratungsangebote gibt es im besten Fall sowohl Unterstützung für die Betroffenen also auch für die Institution.


Wo besteht aktuell konkreter Handlungsbedarf für Trägerverantwortliche?

In Bezug auf Schutzkonzepte zeigte die Studie, dass deren Vorhandensein und Umsetzung wichtig ist, um Fachkräften Orientierung und Sicherheit zu bieten. Friederike Lorenz-Sinai berichtet: „Es werden Schritte gegangen, es werden Maßnahmen ergriffen, Gespräche geführt, während in dem älteren Fall, wo es das [Schutzkonzept] nicht gibt, von den Fachkräften aus dem damaligen Team eine ganz große Rat- und Orientierungslosigkeit und Überforderung erinnert wird. Das macht schon mal deutlich, dass diese Konzepte sehr sinnvoll sind, weil sie in dem Moment, in dem Gewalt thematisiert wird, Halt und Sicherheit bieten.“

Jedoch reicht es nicht aus, diese Verfahrensschritte aus einem Schutzkonzept formal abzuarbeiten. Die Umsetzung muss mit einer professionellen Haltung verbunden sein, die Offenheit und Ernsthaftigkeit im Umgang mit Verdachtsfällen sicherstellt. Dies beinhaltet auch die Einbindung externer Unterstützung und die Reflexion der eigenen Deutungen und Wahrnehmungen.

„In den beiden jüngeren Fällen bestand aber eben das Problem, dass die anzeigenden Eltern oder die Eltern die Gewalt thematisiert hatten, den Eindruck hatten, dass indirekt vermittelt wurde: Wir gehen jetzt diese Schritte, wir führen diese Gespräche, aber wir glauben das eigentlich nicht. Wir denken, da war eigentlich nichts.“ 

Wenn die im Schutzkonzept festgelegten Schritte gegangen werden, die Eltern aber zugleich die Botschaft vermittelt bekommen, dass sie übertreiben oder dass da eigentlich nichts dran sei, scheint die Arbeit an einer professionell-reflektierten Haltung umso wichtiger. 

Erfolgreiche Aufarbeitung ist immer auch Prävention. Aufarbeitung muss daher als fester Bestandteil in die Schutzkonzepte aufgenommen werden.

Ein transparentes Vorgehen und die Integration von Gewaltgeschichten in die institutionelle Praxis sind für die Aufarbeitung entscheidend. Dies kann durch verschiedene Formen der Erinnerungskultur geschehen, wie zum Beispiel – je nach Fall und Ausmaß - Gedenkveranstaltungen oder Transparenz gegenüber neuen Eltern und Mitarbeitern.


Wo sehen die Wissenschaftler*innen die größten Probleme und das effektivste Veränderungspotenzial?

Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit dar. Menschen, die im Arbeitsfeld Kita aktiv sind, müssen lernen, Unsicherheiten auszuhalten und offen mit ihnen umzugehen. Dies ist besonders wichtig im Umgang mit sexualisierter Gewalt, denn solche Fälle sind nicht immer restlos aufzuklären. Oft werden sie erst Jahre später thematisiert und betroffene Kinder und Familien haben auch nach dem Verlassen der Kita noch mit den Folgen zu kämpfen. 

Aufarbeitung muss breit von der Organisation getragen werden und darf nicht an Einzelpersonen hängen. Wenn die ganze Organisation Verantwortung übernimmt, kann eine Kultur des Vertrauens und der Transparenz gestärkt werden. Die ForuM-Studie zeigt, dass eine erfolgreiche Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt in Kitas nicht nur auf formalen Schutzkonzepten und klaren Interventionsstrategien basiert, sondern vor allem auf einer offenen, reflexiven und proaktiven Haltung der gesamten Institution.

Trotz vorhandener Schutzkonzepte besteht weiterhin Handlungsbedarf. Die Konzepte müssen regelmäßig überarbeitet und angepasst werden. Wichtig ist dabei, Schutzkonzepte nicht nur als bürokratische Vorgaben zu sehen, sondern als lebendige Dokumente, die ständig weiterentwickelt werden. 

Für eine gute Präventionsarbeit ist eine professionelle Haltung im Umgang mit Verdachtsfällen ebenso entscheidend wie die Bereitschaft, externe Hilfe einzubeziehen und die eigene Deutung der Fälle zu hinterfragen.


Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Umgang mit sexualisierter Gewalt in Kitas eine komplexe Herausforderung darstellt, die ein hohes Maß an Professionalität, Reflexionsbereitschaft und institutioneller Unterstützung von höheren Organisationsebenen erfordert. Eine erfolgreiche Aufarbeitung und Prävention sind nur möglich, wenn alle Beteiligten offen und ernsthaft mit den Fällen umgehen und die betroffenen Personen in den Mittelpunkt stellen. Durch eine umfassende und transparente Aufarbeitung kann nicht nur das Vertrauen der Betroffenen zurückgewonnen, und Glaubwürdigkeit wiederhergestellt werden, sondern es kann auch eine präventive Wirkung erzielt werden, die zukünftige Fälle verhindern hilft.

Lassen Sie uns positive Geschichten über gelungene Aufarbeitungen erzählen. Nutzen Sie (präventiv) all die Ihnen zur Verfügung stehenden Institutionen, Fortbildungs- und Beratungsangebote. Wenn Sie ein Supervisionsteam haben, bieten Sie ihren Mitarbeitenden kostenfrei geschützte Supervisionsmöglichkeiten an. All das schützt die Kinder, die Eltern und die Mitarbeitenden in evangelischen Kitas.

Cornelia Blendinger

Leitung Stabstelle Innovation und Organisationsentwicklung

 


Mehr zur ForuM-Studie unter: https://www.forum-studie.de/ 

 

 

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