Macht und Erziehung

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Pädagog*innen beschäftigen sich meist ungern mit dem Thema Macht. Macht ist ein »unbeliebtes Phänomen« (Hildebrandt, 2016). Macht zu haben und Macht auszuüben, scheint nicht zum Selbstverständnis unserer pädagogischen Profession zu passen, vor allem wenn wir »gute« und »liebevolle« Pädagog*innen sein wollen. Macht und Machtausübung assoziieren wir eher mit dem, was wir vermeiden wollen. Kindern Vorgaben zu machen, Verbote auszusprechen, Gruppen zu dirigieren und so weiter, gilt nicht gerade als Ausdruck einer professionellen Erziehungshaltung.

Ein Beitrag aus unserem aktuellen evKITA-Durchblick 2024/2025 von Prof. Dr. Alexander Scheidt, Fachbereich Sozialwesen Lehrgebiet Erziehungswissenschaften m. d. Schwerpunkt Beratung, Qualitätsentwicklung und Organisation in kindheitspädagogischen Systemen

Die kritische Haltung gegenüber autoritärer Erziehung ist richtig: Da wir unsere Profession ethisch und verantwortungsvoll ausüben wollen, sehen wir Freiheit, Augenhöhe, Dialog und selbstständiges Handeln als den Weg an, um
»die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« zu fördern (SGB VIII § 22 Abs. 2). Das Problem ist jedoch, dass, wenn wir das Thema Macht verdrängen und die Auseinandersetzung damit scheuen, wir die tatsächliche und potenzielle Macht aus- blenden, die wir als Erziehende haben. Das Verdrängen realer Machtverhältnisse aber kann zum Gegenteil dessen führen, was wir erreichen wollen, nämlich dass wir entweder unseren Machtbereich unangemessen ausdehnen oder die Macht verlieren, Dinge positiv zu gestalten. Um dem Ungleichgewicht in Machtverhältnissen entgegenzutreten, müssen wir also das Thema Macht reflektieren. Beginnen wir mit der bekannten Definition von Max Weber: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durch- zusetzen« (Weber, 1985, S. 28, z.n. Paulick, 2018). Hier wird impliziert, dass jeder Mensch einen Willen zur Macht hat. Macht dient dazu, eigene Ziele zu erreichen und eigene Bedürfnisse zu erfüllen. Ein entscheidendes Merkmal von Macht ist aber auch, dass Macht oft ungleich verteilt ist. Manche haben mehr Macht als andere. Ämter und Positionen beispielsweise geben uns Macht, Persönlichkeit und körperliche Stärke können Macht ermöglichen. Frauke Hildebrandt definiert den Begriff so: »Macht ist die Fähigkeit, die jemand aufgrund einer institutionellen Position oder kraft seiner Persönlichkeit hat, Einfluss auf das Handeln anderer Menschen zu nehmen« (Hildebrandt, 2016).

Macht als Möglichkeit, das Handeln anderer Menschen zu beeinflussen – auch gegen deren ursprüngliche Absicht – ist ein zentrales Merkmal menschlicher Beziehungen. Genau dieser zwischenmenschliche Aspekt von Macht ist es, den wir häufig verdrängen. Denn wir stellen uns Beziehungen lieber rein freundschaftlich vor, als ein harmonisches, liebevolles Miteinander. Doch die Auseinandersetzung um Gerechtigkeit und Anerkennung, das Überzeugen, Streiten und Verhandeln gehören ebenso zu einer Beziehung wie die Momente der Verbundenheit.

Entsprechend sind auch pädagogische Beziehungen von Macht geprägt. Auch sie sind nie rein freundschaftlich oder nur von Gutmütigkeit bestimmt. Selbst wenn wir sagen, »aus Erziehung wird Beziehung«, können wir den Aspekt von Macht nicht ausblenden, da auch Beziehungen immer eine Machtdynamik haben. Auch Kinder haben Macht – und das ist gut so. Ein weinendes Kind hat Macht, indem es uns dazu bringt, es zu trösten und es zu versorgen. Ein neugierig fragendes Kind hat Macht, weil wir unser Wissen neu reflektieren müssen. Ein Kind, das widerspricht und seinem eigenen Willen folgt, hat Macht. Pädagogisches Handeln aber, das muss man sich klarmachen, ist eine besonders ausgeprägte und sichtbare Form der Machtausübung.

Das fängt schon bei den kleinen Dingen im Kita-Alltag an. Ein Erzieher sagt zum Beispiel: »Bevor wir losgehen, geht alle noch mal auf die Toilette.« Das ist eine Form der Machtausübung, selbst wenn er ein freundliches »Bitte« hinzufügt. Denn was passiert, wenn ein Kind sagt: »Nein, ich gehe später«? Auch wenn der Erzieher antwortet, »Okay, dann gehst du später«, ist es letztlich er, der die Erlaubnis gibt. Der Erzieher hat Autorität und damit die Macht. Würden Erziehende ihre Erziehungsmacht nicht mehr ausüben, würden sie nicht mehr dem nachkommen, was ihre Rolle als Erziehende ausmacht, nämlich die Sorge und die Verantwortung für die Kinder, die ihnen anvertraut sind.

Die Frage ist natürlich, wie wir als Erziehende unsere Macht gestalten und wie wir mit kindlicher Macht umgehen. Wir kennen die Unterscheidung der Erziehungsstile autoritär, demokratisch und Laissez-faire (Lewin et al., 1939). Auch ein demokratischer Erziehungsstil setzt Macht und Autorität voraus, denn sonst wäre es Laissez-faire oder vernachlässigend. Der Unterschied zum autoritären Stil besteht jedoch darin, dass die Macht
nicht ungeteilt gilt. Beim autoritären Stil sollen alle Entscheidungen bei der Autorität allein liegen. Sie will die Regeln diktieren und durchsetzen. Widerspruch und Selbstbestimmung werden nicht geduldet. Beim demokratischen Stil sind Entscheidungen grundsätzlich offen für Verhandlungen, sie können in der Gruppe diskutiert werden. Die Er- ziehenden ermutigen den individuellen Menschen und die Gruppe, sich zu beteiligen und einzubringen. Letztlich findet die Macht der Erziehenden dadurch auch die Zustimmung der ganzen Gruppe.

Hier kommt nun ein Aspekt ins Spiel, der oft vernachlässigt wird. Nämlich, dass Macht in Gruppen entsteht und auf die Zustimmung der Gruppe angewiesen ist: »Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.« (Arendt, 2000, S. 45 z.n. Paulick, 2018)

Unter demokratischen Bedingungen ist Macht daher etwas unbedingt Positives, weil sie uns Zusammenhalt und Zusammenleben in einer Gemeinschaft ermöglicht. Macht ist die psychische Kraft, durch die wir zwischen den Bedürfnissen des Individuums und denen der Gemeinschaft vermitteln können. Das bedeutet, dass Macht auch immer wieder neu verhandelt werden muss, dass wir faire und konstruktive Formen der Auseinandersetzung brauchen.

Macht als Merkmal von Gruppen und Gemeinschaften gilt auch für das System Kita. Macht zeigt sich dort nicht nur im Verhältnis Kinder und Erziehende, sondern auch in den Verhältnissen der Kinder untereinander, in den Verhältnissen von Kind und Eltern, Eltern und Einrichtung, Team und Leitung. All diese Verhältnisse sind von Macht geprägt. Die Frage ist jedoch, ob diese Macht immer wieder neu ausgehandelt und balanciert wird oder ob sich Macht einseitig bei Positionen und Rollen verfestigt. Der Kindergarten ist – wie alle Einrichtungen der Bildung – ein Mikrosystem der gesamten Gesellschaft, das genau dann funktional und
angenehm ist, wenn die Machtbalance immer neu hergestellt und neu verhandelt werden kann.

Warum haben wir aber dennoch dieses ungute Gefühl beim Thema Macht? Weil wir wissen, dass toxische Macht böse ist. Wir erleben immer wieder, wie Autorität missbraucht wird und uneingeschränkt gelten soll. Toxische Macht beginnt im Autoritären und schlägt ins Totalitäre um. Daher ist dieses ungute Gefühl gegenüber Macht angebracht. Denn Macht, die nicht eingeschränkt und demokratisch kontrolliert ist, wirkt sowohl auf der Mikroebene als auch auf gesellschaftlicher Ebene schädlich und kann in ihrer extremen Form zu Gewalt und Zerstörung führen.

Aber auch hier müssen wir genauer hinschauen: Denn bei genauer Betrachtung sind Übergriffe und Gewalt Ausdruck eines Verlusts von Macht. Denn »Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist« (Arendt 2000, S. 55 z.n. Paulick, 2018). Dieser Machtverlust betrifft zum einen die Macht über sich selbst, nämlich als Fähigkeit, eigene affektive Impulse zu kontrollieren und Handlungen bewusst zu steuern. Zum anderen betrifft er die Macht in der Gruppe, nämlich als Fähigkeit, die Gruppe zu überzeugen und durch Kompetenz und Kooperationsbereitschaft ihre Zustimmung zu erhalten. Machtlosigkeit ist der Verlust dieser Fähigkeiten. Meist wird diese Machtlosigkeit dann durch autoritäres Verhalten kompensiert, um wieder Kontrolle und Autorität herzustellen. Körperliche Übergriffe und Gewalt sind die extreme Form von Schwäche und Machtlosigkeit.

Hier wird nun der Unterschied zwischen autoritärer Macht und demokratischer Macht deutlich. Autoritäre Macht ist auf Zwang und letztlich sogar auf Gewalt angewiesen. Sie agiert aus einer Position der Schwäche. Demokratische Macht resultiert aus Stärke. Nur unter größtmöglicher Beschränkung und maximalem Vorbehalt duldet sie Gewalt als ultima ratio, etwa als Recht auf Notwehr oder Nothilfe, um Schwächere zu schützen und wenn keine andere Abhilfe möglich ist. Das Verbot von Gewalt ist in Bezug auf Kinder und Erziehung noch eindeutiger. Die Macht der Erziehenden dient allein der Fürsorge und der Befähigung von Kindern.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Grundsatz der gewaltfreien Erziehung erst spät rechtlich verankert. Erst seit 1980 spricht man im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) von der »elterlichen Sorge« statt von »elterlicher Gewalt«. Erst seit dem Jahr 2000 ist im BGB § 1631 Abs. 2 das Recht auf gewaltfreie Erziehung garantiert: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische
Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.«

Dass alle Menschen schon aufgrund ihrer Geburt unveräußerliche Rechte haben, markiert den Hauptunterschied zwischen demokratischen und autoritären Systemen. Ein demokratisches Bildungs- und Erziehungsverständnis beruht letztlich auf dem Grundsatz, dass alle Menschen »frei und gleich an Würde und Rechten« geboren sind (Art. 1, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Vereinte Nationen, 1948). Wir finden daher überall Hinweise, dass unsere Arbeit partizipativ und inklusiv, dass unsere Art der Wissensvermittlung kindzentriert und differenziert, dass unser soziales Handeln empathisch und feinfühlig sein soll. Diversität, Teilhabe und Toleranz sind zentrale Werte einer professionellen Erziehungshaltung. Es ist wichtig, diese Werte als Errungenschaften zu sehen. Es genügt aber nicht, diese Werte hochzuhalten, wenn wir nicht gleichzeitig bereit sind, diese Werte zu schützen und aktiv für sie einzutreten.

Wenn das Ziel von Erziehung Mündigkeit ist im Sinne einer »selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschafts- fähigen Persönlichkeit« (SGB VIII § 1 Abs. 1), dann bedeutet das auch, dass ein Mensch sich seiner Macht bewusst wird und er sich mit dieser Stärke, nicht nur für sich, sondern auch für andere einsetzt. Wie Theodor W. Adorno argumentiert, ist eine »Erziehung zur Mündigkeit« daher auch eine »Erziehung zum Widerspruch«. Dieser Widerspruch ist der Widerspruch gegen die Autorität, die uneingeschränkt herrschen will.

Kurz gesagt: Pädagog*innen sollten ihre Macht reflektieren und sie einsetzen, um gemeinsam mit den Kindern eine demokratische und gerechte Gemeinschaft in der Kita zu verwirklichen. Die Erziehung zu Demokratie und Freiheit ist nur möglich, wenn die Erziehung selbst demokratisch und freiheitlich ist, wenn sie die Rechte von Kindern achtet, weil sie Menschenrechte sind. Aber das allein genügt nicht. Erwachsene und Kinder brauchen auch die Courage und die Stärke, um autoritärer Macht zu widersprechen und widerstehen zu können.

Literatur:

  • Arendt, H. (2000). Macht und Gewalt. (14. Aufl.). Piper.
  • Hildebrandt, F. (2016). Macht in Kitas. wamiki.de. https://wamiki.de/article/macht-in-kitas.
  • Lewin, K., Lippitt, R., & White, R. K. (1939). Patterns of Aggressive Behavior in Experimentally Created »Social Climates«. The Journal of Social Psychology, 10(2),
    269–299. doi.org/10.1080/00224 545.1939.9713
    366.
  • Paulick, C. (2018). Macht. In Socialnet Lexikon. www.social- net.de/lexikon/Macht#toc_2_4.
  • Vereinte Nationen (1948). Allgemeine Erklärung der Men- schenrechte (A/RES/217 A (III) Universal Declaration of Human Rights—German (Deutsch). OHCHR. www.ohchr. org/en/human-rights/universal-declaration/translations/ german-deutsch.
  • Weber, M. (1985). Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriss der verstehenden Soziologie (J. Winkelmann, Hrsg.; 5. Aufl.). Mohr.
     
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