Die Autorin des Beitrags hat die Vision, dass Kinder in ihrer eigenen Kraft baden können, aus sich heraus wachsen können – auf ihre ganz eigene Weise und in ihrem Tempo – und dabei darauf vertrauen können, von liebevollen, gut im Leben stehenden Erwachsenen begleitet und unterstützt zu werden. Leider ist das keine Selbstverständlichkeit.
Ein Beitrag aus unserem aktuellen evKITA-Durchblick 2024/2025 von Anne Sophie Winkelmann, Autorin und freiberufliche Bildungsreferentin
Und das liegt nicht an den Kindern und nicht an der mangelnden Bereitschaft der Pädagog*innen, sondern an den ungleichen Machtverhältnissen zwischen Erwachsenen und Kindern und der damit einhergehenden Dominanz der Erwachsenen, die sich fein verwebt in erzieherischem Handeln, in elterlicher Fürsorge und grundlegend in erwachsenen Blicken auf Kinder findet.
Im Rahmen des Projekts Kinderstube der Demokratie beschreibt das Wissenschaftler*innen-Team dieses Verhältnis wie folgt: »Machtverhältnisse sind (…) zweiseitige Verhältnisse, bei denen die eine Seite über mehr (…) Macht verfügt und Einfluss nehmen kann und die andere Seite dies akzeptiert, keinen Widerspruch erhebt oder trotz Widerstreben zur Duldung oder Befolgung bewegt werden kann« (vgl. Hansen/Knauer/Sturzenhecker 2011, S. 28).
Adultismus als gut versteckte Form von Diskriminierung
Als Fachbegriff für dieses ungleiche Machtverhältnis hat sich der aus dem Englischen stammende Begriff Adultismus (adult=erwachsen) auch in der deutschsprachigen Diskussion etabliert. Adultismus benennt ein gesellschaftliches System von Diskriminierung, in dem die Kompetenzen und Perspektiven von Kindern und Jugendlichen grundlegend weniger Anerkennung erfahren und Selbstbestimmung und Partizipation verwehrt werden (können). Dabei wirken andere Formen von Diskriminierung wie etwa Rassismus, Sexismus, Heteronormativität oder Klassismus mit hinein und bilden in der jeweiligen Situation für einen Menschen eine je einzigartige Diskriminierungserfahrung. Ähnlich wie bei anderen Formen von Diskriminierung zeigt sich Adultismus zudem in einem System von Selbstverständlichkeiten, Sortierungen und Bewertungen von Kindern im Verhältnis zu Erwachsenen und verzerrt so – wie eine unsichtbare Brille – unsere Wahrnehmung.
Dies führt dazu, dass Regelungen und Verhaltensweisen, die wir Erwachsenen gegenüber ganz klar als grenzüberschreitend, gewaltvoll oder mindestens als sehr unhöflich bewerten würden, gegenüber Kindern als angemessen betrachtet, mit Erziehungsideen gerechtfertigt oder in ihren Auswirkungen heruntergespielt werden. Etwa wenn wir schimpfen, wenn aus Versehen etwas hinunterfällt, wenn wir jemanden gegen dessen Willen umarmen oder unbedingt zum Essen oder zum Schlafen bringen wollen.
So bleiben feine Formen von Verletzung, Abwertung und Misstrauen an der Oberfläche unauffällig, prägen jedoch von vorneherein die Wahrnehmung von Kindern über sich selbst und die Welt – in einer Weise, die wir nicht beabsichtigt haben!
Wird Adultismus nicht mit den Kindern thematisiert beziehungsweise positionieren sich Erwachsene nicht kritisch zu ihrem eigenen Verhalten und ungerechten Strukturen, wird Adultismus Stück für Stück verinnerlicht. Das bedeutet, dass Kinder sich selbst als weniger wertvoll, weniger kompetent und vertrauenswürdig wahrnehmen und akzeptieren, dass Erwachsene mehr (über sie selbst) wissen und bestimmen können. Kinder lernen so, dass Abwertung, Gewalt und Ausschluss in dieser Gesellschaft normal und gerechtfertigt sein können. Auf diese Weise wird Adultismus zu einer grund- legenden Erfahrung, die unter bestimmten Bedingungen Voraussetzung für Gewalt und Diskriminierung wieder anderen verletzlichen »Gruppen« gegenüber wird (vgl. Ritz 2008).
Hier wird die Dimension der Notwendigkeit einer grundlegend adultismuskritischen Ausrichtung der pädagogischen Arbeit (und der Ausbildungen und Studiengänge) deutlich.
Veränderungsprozesse in der Kindertagesstätte anstoßen
Zu Beginn der Auseinandersetzung mit Adultismus ist es wichtig, die Macht, die wir als Erwachsene und pädagogische Fachkräfte haben, anzuerkennen und von da ausgehend zu erforschen, wie sie sich zeigt und wie schmal der Grat zu Gewalt und Zwang ist. Es mag sich zwar für viele Menschen unangenehm anfühlen, sich selbst als mächtig zu erkennen, vor allem dann, wenn sie sich im Alltag mit den Kindern oft eher ohnmächtig fühlen, aber Macht zu haben, kann grundlegend bedeuten, Möglichkeiten zu haben: Möglichkeiten, sich durchzusetzen und über andere zu bestimmen, oder aber auch genauso Möglichkeiten, zu unterstützen, Strukturen zu verändern, Raum zu schaffen für die Perspektive der Kinder. Während es im Großen darum geht, Stück für Stück die Machtverhältnisse zu verändern, mehr Partizipation und Selbstbestimmung zu ermöglichen und die Selbstverständlichkeiten aufzulösen, steht auf der subjektiven Handlungsebene zunächst einmal an, einen bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Macht zu entwickeln und jeglichen Missbrauch zu vermeiden (vgl. kritisch zu den verschiedenen Konzepten von Macht: Liebel/Meade 2023, 154 ff.).
Einen zweiten grundlegenden Schritt braucht es, um anzuerkennen, dass wir als pädagogische Fachkräfte, die selbst in einer adultistischen Welt aufgewachsen sind (und als Kinder selbst Verletzungen erlebt haben) und in der Kindertagesstätte unter sehr herausfordernden Bedingungen arbeiten, alle und immer wieder mal auf eine Weise handeln, die Kinder verletzt, beschämt und verunsichert. Auch wenn wir das nicht wollen, auch wenn wir uns sehr bemühen! Umso mehr wir bereit sind, Adultismus an eigenen Beispielen in seiner tiefen Verwobenheit mit unserem eigenen Denken und Handeln
zu erkennen, umso spannender und bereichernder wird derReflexions- und Veränderungsprozess.
Dabei ist es wichtig, wohlwollend und wertschätzend und mit einer grundlegenden Neugier und Offenheit auf uns selbst und unser Handeln zu schauen! Denn nichts behindert Lernen und Wachsen so sehr wie Scham, Schuldgefühle, Rechtfertigung und Abwehrmechanismen, in denen wir uns selbst verstricken können, wenn wir in den üblichen Mustern von richtig und falsch denken.
Auch hier geht es entsprechend wieder darum, Verantwortung zu übernehmen, indem ich mit dem umgehe, was passiert. Zum Beispiel indem ich, sobald ich meine Äußerung oder Handlung als übergriffig oder verletzend erkenne, die Reaktionen des Kindes aufmerksam wahrnehme, von mir aus nachfrage, mich entschuldige und Raum lasse für die Perspektive des Kindes. »Ich habe dich eben plötzlich so angeschrien und ich stelle mir vor, dass das unangenehm für dich war. Ich möchte dir sagen, dass ich das nicht okay finde, wenn Erwachsene so mit Kindern sprechen und dass es mir leid tut, dass es mir passiert ist. Wie war das für dich?«
Erleben Kinder nämlich, dass Verletzungen (und fehlende Beteiligungsmöglichkeiten) zwar passieren, sich Erwachsene dann aber klar selbstkritisch positionieren, ihr Bedauern aus- drücken und sich aktiv um Veränderung bemühen – und machen Kinder die Erfahrung, dass sie sich beschweren können, ihre Beschwerden ernst genommen werden und auch dies zu Veränderungen führt, erfahren Kinder Selbstwirksamkeit und Empowerment und lernen von vorneherein, dass Gewalt und Diskriminierung niemandem gegenüber in Ordnung sind.
Beschwerden als Teil des gemeinsamen Lernprozesses
In guten, vertrauensvollen Beziehungen, in denen Kinder sich grundlegend sicher fühlen, können sie dann zum Beispiel sagen: »Manchmal denkst du, du bist der König hier und kannst alles bestimmen!« Und wir landen mitten in einem tiefen Gespräch über mehr Selbstbestimmung und Partizipation in der Kindertagesstätte. Umso mehr wir Kinder in ihren alltäglichen Konflikten ermutigen, für sich selbst und ihre Grenzen einzustehen und sich auf das eigene Gespür für Ungerechtigkeiten zu verlassen, umso öfter werden sie sich auch trauen, ihre Beschwerden über unser Verhalten und die Strukturen explizit an uns zu richten. Im besten Fall gibt es zudem ein gemein- sam mit den Kindern entwickeltes diskriminierungssensibles Beschwerdeverfahren, in dem die pädagogischen Fachkräfte sich aktiv darum kümmern, alle Beschwerden, die formellen sowie informellen, wahrzunehmen, darauf einzugehen und zu Veränderungen beizutragen (vgl. Backhaus/Wolter 2019).
Verantwortlich für die Qualität der Beziehungen sind wir Erwachsenen
Oft sind die Beschwerden der Kinder aber nicht so leicht als solche zu erkennen. Manchmal zeigen Kinder ihr Unwohlsein, ihre Not oder Ohnmacht zum Beispiel, indem sie sich zurück- ziehen, etwas kaputtmachen, anderen Kindern gegenüber gewaltvoll handeln oder mir nicht zuhören. Leicht entsteht im gängigen adultistischen Blick und Erziehungsverständnis dann eine Dynamik, innerhalb derer das Kind zum Problem wird und dessen vermeintliche Rücksichtslosigkeit, Aggressivität, Kontaktvermeidung oder Überheblichkeit im Vordergrund der pädagogischen Gespräche steht.
Wenn wir im Team ein grundlegendes Wissen um Adultismus erarbeitet haben, können wir uns spätestens an dieser Stelle bewusst machen, wie wir hier aus unserer erzieherischen Macht heraus in einer Weise handeln, die dem Kind in seiner Entwicklung und seiner Integrität schadet. Es braucht hier jemanden, der oder die den Mut und die Klarheit hat, das Problem im Missbrauch der Definitionsmacht der Erwachsenen zu sehen! Jemanden, der oder die aus der Perspektive des Kindes schauen und die Geschichte anders erzählen kann. Der oder die darauf hinweist, dass wir Erwachsenen zu hundert Prozent für die Qualität der Beziehung mit den Kindern verantwortlich sind, und Überlegungen anstößt, den Kontakt wieder herzustellen.
Wie sprechen wir (zwischen Tür und Angel, aber auch in Teamsitzungen) über die Kinder und welche Bewertungen und Interpretationen verstecken sich darin?
Wie können wir uns gegenseitig inspirieren, die Kinder wirklich zu sehen und tiefe Wertschätzung und Vertrauen zur Grundlage der Beziehung zu machen?
Können wir uns entscheiden, unserer Begeisterung, Wertschätzung und Berührtheit mehr Raum zu geben als Miss- trauen, Kritik und Distanz?
Denn auch anders herum funktioniert der Kreislauf. Macht das Kind in einem entscheidenden Moment die Erfahrung, von der pädagogischen Fachkraft gesehen, ernst genommen und nah begleitet zu werden, kann es Stück für Stück ein tiefes Vertrauen in die Fachkraft und den Raum Kita als Ganzes entwickeln. Genau in diesem Aufgehobensein ist Wachsen wirklich möglich. Es ist die Voraussetzung dafür, sich mehr mit den eigenen Gefühlen zu zeigen, sich in Momenten von Überforderung Unterstützung zu suchen, einen Umgang mit Konflikten zu lernen, sich mit Freude einzubringen und mitzugestalten.
Den Weg im Team gemeinsam gehen
Im besten Fall macht sich das ganze pädagogische Team der Kindertagesstätte gemeinsam auf die Forschungsreise zu Adultismus. So können im Rahmen einer Fortbildung ein erstes Grundverständnis und eine Teamkultur des Hinschauens, der Kommunikation und der gegenseitigen Unterstützung entwickelt werden, innerhalb derer sich die Erwachsenen – ähnlich wie die Kinder in der Gruppe – aufgehoben und gesehen fühlen und sich von da aus trauen können, ihre Rollen und Schutzmechanismen ein Stück weit zu verlassen und sich mit ihrer ganz eigenen Kraft und genauso auch mit Unsicherheiten, Ratlosigkeiten und Berührtheiten zu zeigen und von da aus loszugehen.
Literatur:
- Backhaus, Anne/Wolter, Berit (2019). Wenn Diskriminierung nicht in den Kummerkasten passt. Eine Arbeitshilfe zur Einführung von diskriminierungssensiblen Beschwerdeverfahren in der Kita.
https://beschwerdeverfahren.net - Hansen, Rüdiger/Knauer, Reingard/Sturzenhecker, Benedikt (2011). Partizipation in Kindertageseinrichtungen.
Weimar, Berlin: verlag das netz. - Liebel, Manfred/Meade, Philipp (2023). Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine kritische Einführung. Berlin. Bertz und Fischer.
- Ritz, Manuela (2008). Adultismus – (un)bekanntes Phäno men: Ist die Welt nur für Erwachsene gemacht? In: Hand- buch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (S. 128–136). Freiburg: Herder.
- Ritz, Manuela und Schwarz, Simbi (2022). Adultismus und
kritisches Erwachsensein. Münster: Unrast.
Zum Weiterlesen:
- Deutsche Liga für das Kind e.V. (Hg.): Zeitschrift frühe Kindheit (2024). Diskriminierung aufgrund des Alters.